Ana und Gerardo Rosenhain zu Besuch in Stadtoldendorf (06. Okt. 2011)

Ute, Ana, Jens und Gerardo auf dem jüdischen Friedhof (Foto: André Siegeler)
Ute, Ana, Jens und Gerardo auf dem jüdischen Friedhof (Foto: André Siegeler)

 

"Mit "Verspätung": Ana und Gerardo Rosenhain zu Besuch in Stadtoldendorf. Aus Buenos Aires auf Spurensuche in der verlorenen "Heimat""

(aktualisierter TAH-Artikel)

 

Bereits im Jahr 2009 hatten wir als Initiatoren [Ute Siegeler, Klaus Kieckbusch, Jens Meier] und die Stadt Stadtoldendorf Ana und Gerardo Rosenhain zur 2. Stolpersteinlegung eingeladen. Der Besuch scheiterte jedoch an den nicht gesicherten Reisekosten. Jegliche Bemühungen um einen Förderung blieben leider erfolglos. Zudem verstarb Gerardos Vater Heinz wenige Tage vor der Steinsetzung.

Vor vier Jahren hatte Ute Siegeler ihre argentinischen Verwandten zufällig im Internet "entdeckt" (Telefonverzeichnis Buenos Aires). Dank einem Telefonat der gemeinsamen Cousine Beatriz und dank vieler Emails später, stand für beide Rosenhains fest: "Wir werden unsere Familienwurzeln in Augenschein nehmen". Bis dato wussten beide nur von der glücklichen Befreiung von Gerardos Eltern aus einem KZ bei Riga dank des Schwedischen Rote Kreuzes [richtig: Auflösung des Ghettos in Riga überlebt, deportiert nach Hamburg [Zuchthaus, Zwangsarbeit], dann Fußmarsch [3 Tage] nach Kiel: von dort - dank Befreiungsaktion Graf Bernadotte - nach Schweden befreit] und der Erkenntnis, dass die restliche Familie den Holocaust nicht überlebte. Einzelheiten blieben unbekannt bzw. unerzählt.

Seit etwa 1890 führten Gerardos Urgroßeltern Ida und Emil Rosenhain ein Manufakturgeschäft in der Teichtorstraße (Nr. 3). Sie versorgten zusammen mit ihrem Sohn Julius die Stadt- bzw. die Dorfbevölkerung mit Kleidung, Stoffen, Haushaltswaren und Waschmitteln. Die Familie galt als anerkannt, beliebt und "gut situiert". Emil Rosenhain verstarb 1910. Sein Grab befindet sich auf dem hiesigen jüdischen Friedhof. Seine Witwe Ida konnte das Geschäft bis zu ihrer vollständigen Erblindung weiterführen. 1940 verzog sie in ein jüdisches Altersheim nach Berlin. Ida starb dort zwei Jahre später. Ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof Weissensee. 1934 wurde das Geschäfts- und Wohnhaus an einen Drogisten verkauft. Die Familie bezog die kleine Wohnung im Dachgeschoss. Idas behinderte Tochter Erna lebte seit 1937 in Neuerkerode ("Bethel") und wurde 1940 als eines der ersten "Euthanasie"-Opfer in der Tötungsanstalt Brandenburg ermordet. Ihr Bruder Julius blieb bis zum Verbot im Jahr 1938 im "Wandergewerbe" tätig. In der Pogromnacht wurde er ins KZ Buchenwald verschleppt. Danach galt die Familie als "mittellos". Ausreisebemühungen nach Bolivien und Australien scheiterten. Julius musste Zwangsarbeit (z. B. beim Bau der Rappbodetalsperre) leisten, verunglückte (1941) schwer und wurde 1942 ins Ghetto Warschau deportiert; um dort oder in Treblinka ermordet zu werden. Seit 1937 hatte Julius zusammen mit seiner Familie im Hinterhaus Baustraße 14 gelebt. Seine Ehefrau Amalie erlag Ende 1940 ihrer Krebserkrankung; Sohn Kurt starb kurze Zeit später an einem Lungenleiden.

Amalies und Julius erster Sohn Heinz (Gerardos Vater) wurde am 18. November 1920 in Stadtoldendorf geboren. Er war der beste Deutsch-Schüler der Abschlussklasse 1935. Das entsprechende Buchpräsent (Konrad Beste) wurde ihm verweigert ("da Jude"). Im Anschluss besuchte Heinz die Israelitische Gartenbauschule in Ahlem, um sich auf eine mögliche Emigration vorzubereiten. Diese Schule diente aber auch als "Schutzraum"; sie ermöglichte, zumindest teilweise, ein "normaleres" Leben. Im Dezember 1941 wurde Heinz Rosenhain von Hannover aus ins Ghetto nach Riga verschleppt. Dort traf er im KZ auf seine spätere Ehefrau Cläire [Kläre, geb. Stern, geboren in Fürstenau/Osnabrück], die er zuvor in Hannover kennengelernt hatte. Bei seiner Befreiung (Überfahrt nach Schweden) wog er nur noch 44 kg. Im Jahr 1945 folgte die Hochzeit in Schweden. Vier Jahre später wurde Gerardo in Stockholm geboren. 1950 emigrierte die Familie nach Argentinien.

Einundsechzig Jahre später: 6. Oktober 2011, mittags: Ich warte am Bahnsteig in Kreiensen zusammen mit Siegelers auf Ana und Gerardo Rosenhain, die ich nur von Emails, nur anhand eines Fotos und Gerardos Telefonstimme vom Vortag "kenne". Anspannung, herzliche Umarmung, Entspannung. Gerardo spricht ein perfektes Deutsch ("… sagt man noch, "es nieselt" (dabei gießt es vor Ort in Strömen!) oder "Groschen"?"). Ana berichtet, zuhause bei den Schwiegereltern habe man nur deutsch gesprochen. "Pflaumenkuchen" und "Eingemachtes" sind ihnen vertraut. Ana und Gerardo sind Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Buenos Aires; sie wohnen in der Innenstadt ("täglich 7. Mio. Pendler!"). Ihre Kinder besuchten früher bewusst die jüdische Schule ("damit sie wissen, was es heißt "Jude" zu sein, wenn man sie damit konfrontiert. Was sie daraus machen, ist letztlich ihr Ding!"). Sohn und Tochter leben ebenfalls in B. A., wie auch Mutter Cläire (Kläre): immer noch im eigenen Haus mit Garten. Der Jüngste lebt in Dubai; die Enkelkinder allesamt in Israel.

Wir fahren nach Stadtoldendorf, durch die Fußgängerzone. Ich zeige durch die beschlagene Autoscheibe auf das Rosenhainhaus. Nach einem kleinen Imbiss geht es direkt zum jüdischen Friedhof. Ana und Gerardo sind begeistert: "Ich habe es nicht für möglich gehalten, den Grabstein meines Urgroßvaters einmal wirklich anfassen zu können!"; sie sind begeistert auch bzgl. des Pflegezustandes, der Lesbarkeit der Inschriften. Nächste Station ist dann die Besichtigung des Familienhauses. Der heutige Besitzer John Hix ermöglicht den Zugang zum ehemaligen Geschäft, zu den Wohnräumen. Rosenhains sind ergriffen: vielleicht der Höhepunkt ihrer emotionalen Reise? "Mitstreiter" Klaus Kieckbusch stößt nun mit ein wenig Verspätung hinzu. Bei Wolkenbruch geht es durch die Innenstadt, die Rosenhain-Stolpersteine werden begutachtet. In der Amtsstraße wärmen wir uns bei "Kaffee, Erdbeertorte und Bienenstich"; Themen wie "örtliches jüdisches Leben", "Familienwurzeln/bande", "Emigration", "Leben in Argentinien" können vertieft werden.

Am Abend lädt Samtgemeindebürgermeister Wolfgang Anders ins Rathaus. Nach einem herzlichen Empfang im Beisein einiger Ratsmitglieder, nach dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt verschmilzt bei einem gemeinsamen Essen als Ausklang Vergangenes mit Aktuellem.

Bereits am nächsten Morgen heißt es Abschiednehmen am Bahnhof. Gerardo mit feuchten Augen: "Unter dieser wohl originalen Überdachung hat damals auch mein Vater Schutz gesucht." Es berührt mich sehr, diesen beiden weltoffenen und liebenswerten Menschen "nahe" gekommen zu sein. Die wenigen Stunden mit ihnen waren sehr bewegende, nachwirkende Momente.

Ana und Gerardo Rosenhain bedanken sich bei all jenen, die die Erinnerung an das Schicksal ihrer Familie ehren bzw. wach halten. Sie wünschen sich einen weiteren Stolperstein für Heinz Rosenhain.

Fazit: Möglicherweise vergeben, verzeihen könnten nur die Opfer selbst - wir können sie aber nicht befragen! Gleichwohl, die Begegnungen mit den Angehörigenfamilien Siegeler, Matzdorf, Wolff, Hausmann und nun Familie Rosenhain wirken "heilend": die Wunden, die die Nazis gerissen haben, können vernarben! Nicht, dass sich ein Kreis schließen würde, aber "Stadtoldendorf" scheint auf dem richtigen "Weg" zu sein - wenn auch mit Verspätung."

 


© Jens Meier, 2011