Intention - wider das Vergessen

 

Bereits seit 1930 sind die Nationalsozialisten an der Regierung des Freistaates Braunschweig beteiligt: etwa zeitgleich beginnt damit auch der Mob in Stadtoldendorf zu regieren.

Eine zum Sündenbock degradierte unschuldige, zuvor geachtete Minderheit trifft nun auf einen grausamen und rigorosen Verwaltungsapparat, dessen einzelne Glieder perfekt zusammenwirken. So arbeiten Gendarmerie-Wachtmeister, Bürgermeister, Kämmerer, Landrat, Finanzamt sowie staatliche und kommunale Behörden erbarmungslos Hand in Hand. Sie verfolgen paragraphentreu die Umsetzung des Sonderunrechts gegen die jüdische Bevölkerung. Die große Mehrheit der Mitarbeiter in den Ministerien und Rathäusern denkt nicht daran, die gesicherte Existenz wegen der milderen Behandlung auch nur eines einzigen Juden aufs Spiel zu setzen. Im Gegenteil: Verfügungen, Verordnungen, Erlasse, Gesetze legitimieren in den Augen der Staatsdiener jedes Verbrechen.

Mag der Bevölkerung auch nicht jede Anordnung aus dem Katalog antijüdischer Politik bekannt sein, die Auswirkungen sind überall sichtbar - so auch in Stadtoldendorf:

die jüdischen Geschäfte werden boykotiert, geschlossen oder erhalten neue Besitzer,

die Versorgung der umliegenden Dörfer ist begrenzt, da die jüdischen Kaufleute ihr Wandergewerbe aufgeben müssen,

die Gesellschafter der Weberei und ihre Familien verschwinden spurlos, auch sie verlieren Hab und Gut in Windeseile,

jüdische Mitschüler müssen die Bürgerschule verlassen,

jüdische Nachbarn leisten Zwangsarbeit, sie werden von ihren nichtjüdischen Arbeitskollegen getrennt,

in Adressbüchern tauchen jüdische Zwangsvornamen "Sara" und "Israel" [in Stadtoldendorf: "Isidor"] auf,

ab September 1941 müssen jüdische Bürger gut sichtbar den gelben Stern tragen,

jüdische Bürger werden zum "Arbeitseinsatz" befohlen bzw. verschleppt, ihre Wohnungen versiegelt und anschließend das Inventar versteigert.

Diese Wende vollzieht sich in aller Öffentlichkeit: die Gesellschaft reagiert nur bedingt mit Ablehnung und Entsetzen - aber selbst in Stadtoldendorf gibt es Bürger, wenn auch sehr wenige, die zu helfen versuchen.

Die breite Öffentlichkeit stimmt zu oder verhält sich desinteressiert. Trotz aller boshaften und menschenverachtenden nationalsozialistischen Propaganda ist das Volk zwar nicht in Gänze zu fanatischen Antisemiten mutiert. Aber: die unterschwellige Judenfeindlichkeit, die tägliche Propaganda mit ihren allumfassenden, fortwährenden Tiraden in Film, Rundfunk und Zeitungen, und der ständige Druck, den Staat und Partei unverhohlen oder verborgen ausüben, zeigen Wirkung: sie betäuben und führen zu einer verheerenden GLEICHGÜLTIGKEIT.

Aber: latenter Antisemitismus und kriegsbedingte Um-sich-selbst-Besorgtheit erklären keinesfalls, warum die Leiden, die Bedrängnis und die Hoffungslosigkeit der in ständiger Angst lebenden Mitbürger nicht mehr wahrgenommen werden. Mitbürger, die sich nur aufgrund ihres Glaubens von der Mehrheit unterscheiden - aber: ist der Glaube nicht eigentlich Privatsache?

Mitbürger, die jeglicher Lebens- und Alltagsnormalität beraubt werden und die unentwegt eine brutale, nicht zu ertragende Bedrohung spüren müssen.

Leid und Schuld sind individuell; die Erinnerung und das lokale Gedächtnis hingegen müssen kollektiv sein. Es gilt die Erinnerung an die grausamen Wahrheiten vor Ort wach zu halten und diese (weiter) zu vermitteln. Das Erinnern und die Ehrung der Schicksale, der entsetzlichen Leidenswege der Opfer der NS-Zeit in Stadtoldendorf müssen der Mahnung dienen, dass die deutsche Gesellschaft nie wieder derart kläglich versagen darf.

Allerdings sind Sonntagsreden ebenso wenig hilfreich wie die Verschiebung der Verantwortung, der Verweis an Institutionen, beispielsweise an die Kommune, den Staat, die Regierung, an den Zentralrat oder eben an die Gesellschaft: getreu dem Motto: irgendjemand wird es schon richten, irgendjemand wird sich schon kümmern.

Aber nicht irgendjemand: vielmehr jeder einzelne von uns ist aufgerufen, jeder Form, jedem Ansatz von Antisemitismus, von Fremdenfeindlichkeit, von Diskriminierung umgehend und überall entschieden zu begegnen.

Jede Stammtischparole, jeder dumme Witz ist bereits im Ansatz als solche, als solcher zu entlarven.

Jenen, die die Konfrontation mit der historischen Wahrheit scheuen, sind sofort die Augen zu öffnen!

Denn: die Auseinandersetzung mit dem größten Verbrechen, das zu begehen die deutsche Gesellschaft fähig war, ist zwingend.

Dies sind wir den Opfern schuldig! 

 

© Jens Meier, 2009