Rede zum 85. Pogromgedenken in Stadtoldendorf, 09. November 2023, Gedenkveranstaltung im "Alten Rathaus", 19 Uhr

 

"Meine sehr geehrte Damen und Herren,

mein Vortrag heute Abend ist – wie so oft – dreigeteilt.

Zunächst werde ich ein Familienschicksal vorstellen, gefolgt von der Schilderung der Ereignisse in der Pogromnacht vor 85 Jahren. Enden möchte ich dann mit einigen Gedanken zum „Bericht zur Lage der Nation“.

Und erneut habe ich heute Abend wieder sehr viele Fragen mitgebracht.

Aber: keine Angst! Sie sind im Vorteil… denn Sie müssen die Fragen nicht schriftlich beantworten.

Fangen wir also an. Lassen Sie uns zunächst zurückblicken.

 

Stellen Sie sich vor, Sie wachsen in Stadtoldendorf recht behütet auf. Ihr Charme sei - seit Kindertagen - einfach unschlagbar, heißt es – nicht nur von Seiten Ihrer Familie, sondern von den Allermeisten. Denn: Sie sind stets positiv gestimmt und scheinen völlig vorurteilsfrei durchs Leben zu gehen, durchs Leben gehen zu wollen. Sie glauben an das Gute oder Sie wollen an das Gute im Menschen glauben! Komme, was da wolle! Ihre Lebensmaxime? Ja und Nein, denn die Liebe ist noch größer, noch stärker! Aber dazu kommen wir später…

 

Ihre Eltern betreiben ein Manufakturwarengeschäft in zweiter Generation mitten in der Stadt – in der obersten Teichtorstraße. Der Laden im eigenen Haus ist nicht klein aber auch nicht groß. Hauptsächlich wird mit Stoffen gehandelt. Ihr Vater fährt zusätzlich übers Land. Im Haus leben noch Ihr jüngerer Bruder Kurt, Ihre fast blinde Oma Ida und Ihre behinderte Tante Bertha. Gleich nebenan befindet sich ein Modegeschäft, Ihre Verwandtschaft, „der kleine Rothenberg“ genannt, und schräg gegenüber ebenfalls Familie, der „große Rothenberg“. Auch in unmittelbarer Nähe, allerdings Richtung Teich, befindet sich das Vereinslokal der NSDAP, das „Gasthaus zum schwarzen Bären“.

Sie sind ein begabter Schüler – Deutsch ist Ihr Lieblingsfach, Sie sind Klassenbester – und stehen kurz vor der Mittleren Reife. Schwimmen ist eine Ihrer Leidenschaften. Religion spielt keine große Rolle, Ihre Familie gilt als nicht traditionell, die Gottesdienste werden nur an hohen Feiertagen besucht.

Die Hetze im Radio, in der Presse gegen die jüdische Bevölkerung nehmen Sie zwar wahr, aber Sie verstehen sie nicht. Die zunehmende Nervosität, das Verstummen der Älteren wissen Sie nicht einzuordnen.

Dies ändert sich erst, als die SA beim Boykottaufruf auch Ihre Familie behelligt. Jede Tür wird geöffnet, jeder Raum durchwühlt, der Laden geplündert, vieles zertrümmert. Sie selbst werden zwar nicht geschlagen, es bleiben aber das Entsetzen, die Hilflosigkeit und die Angst.

Wenig später erhalten Ihre Eltern ein Schreiben. Ihnen wird verboten, die Schule weiter zu besuchen. Sie sind geschockt. Wie soll es nun weitergehen? Ohne Abschluss? Zumal das Geschäft sehr schlecht läuft, Kunden ausbleiben, die Oma und die Tante mehr Aufmerksamkeit fordern.

Zunächst wird das Geschäft an den Drogisten Werner verpachtet, schließlich verkauft. Die Familie kann vorläufig die obere Wohnung weiternutzen.

Allerdings: ohne die finanzielle und materielle Hilfe der Gesellschafterfamilien der Weberei Rothschild Söhne, vor allem der Familien Wolff und Matzdorf, wäre ein Überleben nun schwer vorstellbar.

Die Familien Wolff und Matzdorf spenden Lebensmittel und übernehmen das Schulgeld, beispielsweise für den Besuch der Israelitischen Gartenbaumschule in Ahlem. So scheint es doch eine Zukunft für Sie zu geben: die Ausbildung zum Gärtner – und dies auch im Hinblick auf die Vorbereitung einer möglichen Auswanderung.

Die Israelitische Gartenbaumschule ist ein geschützter Raum, hier unter Gleichgesinnten, unter Jugendlichen.

Sie bietet eine „normalere“ „Alltäglichkeit“, hilft abzulenken. Die Grundversorgung, das „Administrative“ scheinen gesichert, was vieles erleichtert. „Gärtnern“ ist Ihnen zwar neu, wird aber dennoch schnell zu Ihrer Berufung.

Besuche bei den Eltern sind nun selten, da zu zeitaufwendig und zu kostspielig. Die Eltern sind derweil in ein Hinterhaus in die Baustraße umgezogen, für die Oma wird ein Platz in einem Israelitischen Altersheim in Hannover gesucht, die Tante ist in einer Pflegeeinrichtung in Bethel.  

Als Jugendlicher aus der Provinz gefällt Ihnen die Großstadt Hannover – trotz der allerwidrigsten Umstände. Noch gibt es jüdische Cafés, jüdische Bäckereien, wo Sie sich mit Gleichaltrigen treffen können.

Der Hass und die Ausgrenzungen nehmen ständig zu, aber Sie setzen bewusst auf Ihre Form der „Naivität“: „auf mich wird das nicht zutreffen“.

In der Pogromnacht sehen Sie die Synagoge in Hannover brennen. Was Sie bewegt, können Sie nicht in Worte fassen. Am nächsten Tag fahren Sie aufgewühlt und angespannt mit dem Fahrrad zu Ihrer Mutter nach Stadtoldendorf. Sie müssen erfahren, dass ihr Vater in der Nacht verschleppt worden ist. In Stadtoldendorf reagieren die Leute auf der Straße mit Verachtung. Sie werden mehrfach angespuckt. Es bleiben nur wenige Stunden, dann müssen Sie nach Hannover zurückkehren.

Nach erfolgreicher Gesellenprüfung, ein christlicher Grabschmuck, werden Sie zum öffentlichen Landschaftsbau „dienstverpflichtet“. Sie verlieren diese Arbeit und müssen fortan in einem sogenannten, völlig überfüllten „Judenhaus“ ausharren. Die Israelitische Gartenbaumschule wird nun von der Gestapo als Gefängnis und Folterstätte missbraucht und dient kurze Zeit später als Sammellager für die Deportationen gen Osten.

In dieser grausamen Zeit des Abwartens, der absoluten Ungewissheit sterben innerhalb weniger Monate Ihre Mutter gefolgt von Ihrem Bruder an der gleichen Lungenerkrankung. Ihr Vater leistet Zwangsarbeit im Steinbruch, später beim Bau einer Talsperre im Harz. Und Ihre Tante wird in der Tötungsanstalt in Brandenburg, in der Gaskammer einer „Pflegeanstalt“, ermordet. Diese Schicksale sind Ihnen derzeit unbekannt – und manche bleiben es für immer.

Und genau in dieser grausamen Zeit treffen Sie auf einen ganz besonderen Menschen: Sie treffen auf Klara.

Klara versorgt die älteren Bewohner in „Ihrem“ Judenhaus mit Essen. Klara und ihre ältere Schwester Hanni konnten aufgrund der Bestimmungen nicht zusammen mit ihren Eltern und den jüngeren Brüdern rechtzeitig nach Argentinien emigrieren – denn zu jener Zeit konnte nur ausreisen, wer jünger als fünfzehn oder älter als 35 Jahre alt war!

So müssen beide allein im Reich zurückbleiben. Sie arbeiten bis zum Verbot in einer israelitischen Pension in Hannover.

Im „Judenhaus“ begegnen Sie Klara zufällig zum ersten Mal. Sie kommen ins Gespräch, finden sie auf Anhieb sympathisch und wunderschön. Das, was übrig bleibt von der Essensverteilung, obwohl eigentlich ja nichts übrigbleiben kann, steckt Ihnen Klara heimlich zu. Nichts ist nun wichtiger, als der Augenblick, wenn Klara wieder das Haus betritt. Das ist der Höhepunkt des Tages! Sie fiebern dem Wiedersehen entgegen.

Was gibt es Größeres, Schöneres, als verliebt zu sein? – wir erinnern uns!

Wer verliebt ist, der lebt in seiner ganz eigenen Welt. Und das Träumen fällt leichter – selbst in ausweglosen Situationen?

Nur, ein weiterer Albtraum beginnt, als Sie erfahren, dass Sie von Gleich auf Jetzt aus Hannover deportiert werden sollen. Zusammen mit 1000 weiteren Leidensgenossen, darunter Klara, ihre Schwester Hanni und deren Freund Alfred, „finden“ Sie sich in einem Zug am Bahnhof Fischerhof wieder.

„Finden“ ist die nette Umschreibung für stundenlanges Warten, Leibesvisitationen, Rauben Ihrer letzten Wertsachen, Schikanen ohne Ende. Übrig bleibt der karge eigene Reiseproviant. Das Ziel der Reise ist unbekannt. Der verschlossene, völlig überfüllte Zug, der nie verlassen werden darf, die SS kontrolliert auf den Bahnhöfen, ist drei Tage unterwegs. Anhand der vorbeiziehenden Ortschaften merken Sie, dass es Richtung Osten geht. Ihr Kopf ist taub.

„Das Einzige was wirklich zählt, ist, dass ich mit Klara zusammen sein kann“, denken Sie noch.

Die Fahrt endet in Riga. In kleinen Gruppen werden Sie ins Ghetto getrieben. Die alten Menschen werden bereits am Bahnhof selektiert und später erschossen. Das können Sie nicht wissen, nur vermuten, da viele, die Sie während der Fahrt kennengelernt haben, das Ghetto nie erreichen.

Die einzelnen barackengleichen, mit Stacheldrahtzäunen gesicherten Häuserzeilen sind geräumt. Zum Teil steht noch das Essen auf dem Tisch, so als haben die Bewohner die Häuser fluchtartig verlassen müssen. Tatsächlich sind die lettischen Juden zuvor zu Zehntausenden im Wald erschossen worden. Sie teilen einen Raum zusammen mit Klara, Klaras Schwester und deren Freund.

Kann man sich an die Struktur, an das Elend gewöhnen? Ihnen bleibt nichts anderes übrig: Antreten auf dem Appellplatz frühmorgens und bei der Rückkehr von der Zwangsarbeit meist nachts. Einteilung in Arbeitsgruppen zu zehn Personen, bewacht von der SS. Ständige Kontrollen. Wer etwas bei sich trägt, wird vor aller Augen gehenkt. Ständiger Hunger, dünne Suppe aus Fischköpfen mit wenig Kartoffeln, ab und an süßes Pferdefleisch. Klara arbeitet in einer Bücherei für deutsche Frontsoldaten. Ihr Chef kann sie manchmal mit Essen versorgen.

Sie selbst arbeiten bei „Opel“, Sie müssen beschädigte Motoren, die aus Kriegsgebieten eintreffen, überholen. Ihr Vorgesetzter erklärt Ihnen geduldig alles, zeigt sich sogar menschlich. Als ein Motor aus dem LKW kippt, Sabotage im Raum steht, rettet er Ihnen das Leben, indem er ins Büro eilt und rechtzeitig die defekten Halterungen reklamiert.

Das macht Hoffnung. Zudem: es gibt durchaus die eine oder andere Hilfe auf Seiten der lettischen Zivilbevölkerung – zumal bei Arbeitseinsätzen außerhalb des Ghettos Die verbliebenen lettischen Juden im zweigeteilten Ghetto sind viel besser organisiert als die deutschen und teilen ihr spärliches Essen brüderlich mit ihnen.

Aber diese Hoffnung wird sofort wieder erstickt, wenn beispielsweise bei Räumungsarbeiten die Gefangenen ganz bewusst von oben mit Steinen beworfen werden, wenn der Ghettoleiter Dr. Roschmann seinen Spruch, „Bevor ich esse, bringe ich einen Juden um!“ täglich in die Tat umsetzt. Ständig werden Menschen verschleppt. „Wer zur Kommandantur bestellt wird, der kommt nicht wieder!“.

Was bleibt, ist die Angst, die ständige Angst, von Klara getrennt zu werden. Die Angst, irgendwo, irgendwann aufzufallen, aufgegriffen und getötet zu werden. Die Angst, was wird der nächste Tag bringen.

Dann werden Sie tatsächlich verschleppt, zusammen mit 400 Personen, ins KZ Salaspils, etwa 18 Kilometer von Riga entfernt. Im bitterkalten Dezember bauen Sie dort Holzbaracken – für sich selbst, zwei Monate lang. Die Hochbetten haben vier Etagen. Es gibt keine Toiletten, keine Wasserversorgung – nur den Schnee draußen. Sie können ein Bett direkt unterm undichten Dach ergattern, hier ist die Luft noch am besten. Sehr viele Menschen verhungert. Ihre Leichen werden im Massengrab verscharrt. In Decken und an Seilen werden die Toten durchs unwirtliche Gelände geschliffen. Sie müssen jemanden tragen, den sie zwei Tage zuvor erst kennengelernt haben. Sie können sich weder waschen, noch die Kleidung wechseln. Alles stinkt. Sie sind völlig verlaust, verdreckt. Unzählige Furunkel plagen Sie. Die SS bietet an, sich krankmelden zu können, um dann ins Ghetto zurückzukehren.

Sie sind am Ende all Ihrer Kräfte und melden sich krank. Und tatsächlich kehren Sie ins Ghetto zurück – als Einziger! All die anderen, die das Angebot auch in Anspruch nahmen, sind nie zurückgekehrt.

Das Ghetto ist für Sie nun ein ganz wunderbarer Ort. Sind Sie nicht gerade der Hölle entkommen? Und: Sie sehen Klara endlich wieder – unfassbar. In der Krankenbaracke versucht man Ihnen zu helfen. Flüssige Vaseline dient der „Wurmbekämpfung“.

Nach der Auflösung des Ghettos arbeiten Sie im Armeebekleidungsamt. Sie sind auch im dortigen Lager interniert. Kleidung, auch aus dem Ghetto, wird kontrolliert, sortiert und gewaschen, anschließend ins Reich zurückgeschickt. Klara arbeitet dort als Köchin.

Als die Schwester von ihrem Freund getrennt wird, Alfred ist auf einem Schiff inhaftiert, rät Klara ihr, zu versuchen, in Riga zu bleiben – der Lagerkommandant habe Klara dazu geraten – „In Riga bist du sicherer“. Doch Hanni geht freiwillig mit an Bord. Hanni und Alfred (Jacobsohn) werden ins KZ Stutthof verschleppt und dort ermordet.

Wenig später, als die Front immer näher rückt, werden auch Sie zusammen mit Klara per Schiff nach Hamburg deportiert. Die schreckliche Überfahrt, seekrank im Bauch des Schiffes, auf Munitionskisten ausharrend, dauert drei Tage.

Im Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel werden Frauen und Männer getrennt, die Zelle müssen sich bis zu 40 Personen teilen. Sie leisten erneut Zwangsarbeit, schmelzen unbrauchbare Munition ein, dann werden Gärtner gesucht und Sie melden sich.

Klara können Sie bestenfalls aus weiter Ferne beim Hofgang erahnen.

Dann sind Sie mutig, fragen, ob Sie nicht im Innenhof des Frauengefängnisses Rasenmähen dürfen. Dies wird tatsächlich erlaubt. Ohne Haare und in Häftlingskleidung schauen alle Frauen gleich aus, aber die Frauen erkennen Sie.

Und augenblicklich fängt es an zu schneien. Es schneit Papier. Alle Frauen haben winzige Fetzen mit Notizen für ihre Männer geschrieben und Ihnen zugeworfen. Sie sammeln alles schnell ein und verteilen die Schätze anschließend.

Auch Klara hat geschrieben. Das ist unbeschreiblich! Sie sind der glücklichste Mensch der Welt! 

Einen Monat später, sind Sie dann tagelang zu Fuß, ohne Schuhe, ins Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel marschiert – auch Klara. Ein Todesmarsch mit 800 Häftlingen. Immer bedroht durch Fliegeralarm. Die Landbevölkerung steckt Ihnen etwas Essen zu.

Der dortige Kommandant findet folgende „Grußworte“: "Ihr seid Juden? Euch haben sie wohl vergessen in Riga zu töten! Das werden wir nun nachholen!"

Sie leisten erneut Zwangsarbeit, Aufräumarbeiten, Klara arbeitet in der Kleiderkammer.

Eines Abends kommt ein SS-Mann in die Baracke und sagt, „morgen geht es nach Schweden!“

In der gleichen Nacht werden Sie zu einer Baracke voller Toter geführt. Sie müssen Ihre Häftlingskleidung gegen die Zivilkleidung der Toten tauschen. Gleiches geschieht den Frauen.

Sie denken, „wenn sie uns jetzt ermorden, sind wir nicht mehr als Häftlinge zu identifizieren“.

Am nächsten Morgen werden Männer und Frauen zusammengeführt, es heißt: "Sie fahren heute nach Schweden; es kommen gleich Busse!" 

Sie werden gesiezt! Und, tatsächlich, es kommen große weiße Busse mit dänischen Hoheitszeichen; aber niemand will einsteigen.

Dann werden Sie zusammen mit Klara und den anderen hineingetrieben und die Türen verschlossen, auf den Sitzen finden Sie Frühstückspakete, die unberührt bleiben. Der Fahrer grüßt ganz normal mit: "Guten Morgen", nicht mit "Heil Hitler".

Sie haben Angst, alle haben Angst.

Ein Mithäftling erkennt, dass es Richtung Flensburg geht. Bei jedem Waldstück schrecken Sie auf. An der dänischen Grenze werden die Busse einfach durchgewunken.

Ihnen schwirrt der Kopf: Sie wissen, Dänemark ist immer noch von den Nazis besetzt. Sie grübeln, „hat der dänische König sich nicht damals aus Solidarität einen Davidstern angesteckt“?

Dann halten die Busse mitten in der Natur. Alle strömen hinaus, auf der Suche nach etwas Essbarem, viele beginnen sofort Gras zu essen.

Dann erblicken Sie endlich das Rote Kreuz, Ihre Kleider werden desinfiziert und anschließend gibt es Suppe.

Richtiges Essen!

Immer und immer wieder stellen Sie sich an, bitten um "Nachschlag" und erhalten dann auch immer und immer wieder Suppe - problemlos.

Unglaublich!

Dann werden Sie nach Kopenhagen gefahren, mit dem Zug geht es bis zur Küste und dann mit der Fähre nach Malmö.

Als Sie das Schiff verlassen, erblicken Sie ein riesengroßes Zelt. Die Einheimischen begrüßen Sie voller Begeisterung.

Und als Ihnen dort der Rabbiner entgegenkommt, wissen Sie: ich bin frei!

 

Drei Monate stehen Sie und Klara in einer Schule unter Quarantäne, Sie werden aufgepeppelt, müssen sich erst wieder an normales Essen gewöhnen. Mit kleinen Rundreisen erkunden Sie das Land.

Sie heiraten, zusammen mit vier weiteren das Konzentrationslager überlebenden Pärchen. Die Zeremonie in der völlig überfüllten Stockholmer Synagoge ist märchenhaft.

Anschließend ziehen Sie in ein kleines Dorf. Sie arbeiten wieder als Gärtner, Ihre Frau Klara als Köchin. Die deutsche Staatsangehörigkeit wird bestätigt. Aber um Klaras Eltern in Argentinien endlich per Telegramm kontaktieren zu können, haben Sie doch sehr lange sparen müssen.

1949 wird Sohn Gerardo geboren. 1950 emigrieren Sie mit Ihrer kleinen Familie nach Argentinien.

1956 wird dort Sohn Pedro geboren.

 

Das Bild, das ich Ihnen mitgebracht habe, ist die Kopie eines Ausschnitts des Hochzeitsfotos von Klara und Heinz Rosenhain vor der Synagoge in Stockholm am 26. August 1945.

 

Heinz Rosenhain ist am 18. November 1920 in Stadtoldendorf geboren und am 12. November 2009 in Buenos Aires nach langer schwerer Krankheit verstorben.

Erst nach dem Krieg hat er erfahren, dass sein Vater Julius 1942 ins Warschauer Ghetto verschleppt und dort oder in Auschwitz ermordet worden ist.

Mehrfach hat er sich später mit den Überlebenden des Riga-Transportes in Hannover getroffen. Stadtoldendorf hat er nie wieder besucht. Er ist auch nie nach Stadtoldendorf eingeladen worden.

Im Mai 1997 wird Heinz Rosenhain von der Shoah-Foundation interviewt. Er erzählt bewegend sein Leben. Sie finden dieses Interview auf ewig in der Gedenkstätte Yad Vashem.

2011 besucht Gerardo Rosenhain zusammen mit seiner Frau Ana Gunsberg erstmals die Geburtsstadt seines Vaters.

Im März 2014 nehmen Ana und Gerardo an der vierten Stolpersteinlegung in Stadtoldendorf teil. Heinz Rosenhain erhält einen Stolperstein in der Teichtorstraße 3.

Vier Monate später sind Ana und Gerardo Ehrengäste bei der Eröffnung der Gedenkstätte in Ahlem.

2015 werden Stolpersteine für Klara Rosenhain, geb. Stern, und ihre Familie in der Koppelstraße 29 in Fürstenau bei Osnabrück gelegt.

Letztes Jahr im September sind Ana und Gerardo Ehrengäste der Gedenkveranstaltung zum Todesmarsch in Kiel.

Und im Januar dieses Jahres kann Klara Rosenhain ihren 100. Geburtstag in Buenos Aires feiern. Klara lebt immer noch im eigenen Haus, ist pflegebedürftig, sehr schwerhörig aber immer noch geistig fit. Es gibt Fotos von der Geburtstagsfeier, die Familie im Garten: Klara, zusammen mit ihren Söhnen, ihren Enkel- und ihren Urenkelkindern. Sie leben in Argentinien, Spanien, Polen und Israel.

Abschließend möchte ich Heinz Rosenhain im Original zitieren. Im Shoah-Foundation-Interview beantwortet er die Frage, „was glauben Sie, warum Sie überlebt haben?“, wie folgt:

„Nun ja, aufgrund meiner Jugend. Ich war gewohnt, zu arbeiten. Und ich hatte natürlich auch ein bisschen Glück. Ich war ganz auf meine Frau fixiert. Die Liebe hat mir sehr geholfen. Ich habe nur noch 46 kg gewogen. Ich war gutgläubig. Ich baute immer auf die Zukunft. Und ich konnte einfach nicht glauben, was mir bevorstand. Viele Menschen, um mich herum, nahmen sich das Leben, was ich damals nicht verstehen konnte. Heute aber verstehe ich ihre Entscheidung. Das waren ja alles ältere Menschen. Ich kann mich an alles erinnern. Und das geht auch nie verloren. Diese Zeit ist immer in meinem Kopf. Nicht jeden Tag, aber doch jede Nacht: Albträume.“

 

PAUSE

Kommen wir zu den Ereignissen vor 85 Jahren.

 

Heute vor 85 Jahren, genau um diese Uhrzeit, ist die Synagoge noch unberührt. Sie ruht – allerdings nicht selbstgewählt. Bereits seit zwei Jahren sind Gottesdienste verboten.

Und die Welt? die ruht nicht, die ist unglaublich aus den Fugen geraten.

Seit 1930 sind die Nationalsozialisten an der Regierung des Freistaates Braunschweig beteiligt und nur wenig später beginnt auch der Mob in Stadtoldendorf zu regieren.

Die Nationalsozialisten erklären eine Religion zur Rasse und stempelt sie damit zum Sündenbock. In der Folge trifft diese unschuldige Minderheit nun auf einen grausamen und rigorosen Verwaltungsapparat.

Polizei-Wachtmeister, Bürgermeister, Kämmerer, Landrat, Finanzamt - staatliche und kommunale Behörden - verfolgen paragraphentreu die Umsetzung des Sonderunrechts gegen die jüdische Bevölkerung.

Kaum jemand in den Ministerien, in den Rathäusern denkt daran, die gesicherte Existenz wegen der milderen Behandlung auch nur eines einzigen Juden aufs Spiel zu setzen.

Im Gegenteil: Verfügungen, Verordnungen, Erlasse, Gesetze legitimieren in den Augen der Staatsdiener aber auch in den Augen der Bevölkerung jedes Verbrechen.

Die Auswirkungen sind überall sichtbar – auch in Stadtoldendorf:

Ab 1933/34: die jüdischen Geschäfte werden boykottiert, geschlossen oder erhalten neue Besitzer.

Ausschluss per „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, Ausschluss „dank“ Einführung des „Arierparagraphen“: beispielsweise auch in Sport – und Turnvereinen.

1935: Erlass der „Nürnberger Gesetze“,

Aberkennung des Wahlrechts.

Jüdische Mitschüler müssen die Bürgerschule verlassen.

1936: Versammlungsverbot

Sommer 1938: Einzug der Gewerbescheine. Viele jüdische Familien werden mittellos und verarmen vollständig.

„Arisierungen“ im ganz großen Stil: Zwangsverkäufe von Immobilien und Grundstücken, u.a. wird die Weberei Rothschild Söhne zu einem Zehntel ihres realen Wertes gestohlen. Das Geldvermögen, evtl. Mieteinahmen werden auf Sperrkonten „gesichert“ und somit ergaunert.

Die für den Januar 1939 angekündigte Einführung der Zwangsvornamen setzt das „Stadtoldendorfer Adressbuch“ bereits 1938 um.

Sie lesen dort die Zusätze „Sara“ und „Isidor“.

Und heute vor 85 Jahren, in nur wenige Stunden, dreht sich das Rad der Unvorstellbarkeiten noch ein wenig schneller. Die Synagoge wird geschändet und geplündert; die Fenster zerschlagen, das Feuer noch rechtzeitig gelöscht, um die unmittelbar angrenzenden Häuser nicht zu gefährden.

Die Ruine gilt fortan als Schandfleck – nicht als Mahnmal.

Knapp ein Jahr später erfolgt ihr Verkauf auf Abbruch. Die auf dem Dachboden der Bürgerschule „geparkten“ kostbaren Thora-Rollen beabsichtigte man nach Kriegsende zu veräußern bzw. im Heimatmuseum auszustellen. Erst Ende 1958 werden sie an den Jüdischen Landesverband zurückgegeben.

Heute vor 85 Jahren, in der Nacht, werden 13 Mitbürger verhaftet, das Schuhgeschäft Lichtenstein in der Teichtorstraße geplündert, die jüdischen Familien tyrannisiert.

Der 83-jährige Rabbiner Salomon Braun wird aufgrund seines Alters bereits in Holzminden wieder entlassen.

 

Die 12 Namen der ins Konzentrationslager Buchenwald Verschleppten lauten:

Arthur Braun

Paul Heinberg

Paul Jacobson

Theodor Lichtenstein

Julius Rosenhain

Julius Rothenberg

Hermann Schartenberg

Julius Stein

Albert Schoenbeck

Heinrich Ullmann

Kurt Wallhausen und

Theodor Wallhausen.

 

Die Not im Konzentrationslager, das bewusst auf die unzähligen Deportierten nicht vorbereitet ist, spottet jeder Beschreibung.

Buchenwald dient der Demütigung, der Entmenschlichung und der Erpressung. Letztes Hab und Gut gehen hier verloren.

Nur, wer erklärt, umgehend zu emigrieren und über die Vorkommnisse zu schweigen, hat die Chance auf Entlassung – nach Wochen, nach Monaten.

Als die Männer verstört und eingeschüchtert nach Stadtoldendorf zurückkehren, steigert sich die Angst in den betroffenen Familien ins Unerträgliche. Nur sehr wenige konnten bisher überhaupt emigriert.

Die Flucht in die Anonymität der Großstädte hilft bestenfalls Zeit zu gewinnen. Rastlos werden nun Konsulate und Behörden aufgesucht; Angehörige, die im sicheren Ausland leben, werden um Hilfe bei der Ausreise, um finanzielle Unterstützung gebeten.

Mit Ausbruch des Krieges spitzt sich die Lage dramatisch zu. Die Männer werden zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Stets gibt es neue einschränkende „Gesetze“, Verbote - beispielsweise des Bezugs von Seife, Eiern, Milch, Fleisch,

Zwangsveräußerungen aller Art,

Fahrerlaubnisse und Zulassungsbescheinigungen werden für ungültig erklärt,

Verbot von Rundfunkgeräten, Fahrrädern, Telefonen, Schreibmaschinen, Fotoapparaten, Verbot der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Verbot von Kinobesuchen, von Haustieren, von Zeitungen.

Jüdische Patienten haben in den Heil- und Pflegeanstalten keine Überlebenschance: sie werden vom „Tötungsprogramm“ nie zurückgestellt.

Ab September 1941 müssen die Bürger jüdischen Glaubens sichtbar den gelben Stern tragen.

Es folgen die Deportationen zum „Arbeitseinsatz im Osten“: im Dezember 1941 von Hannover aus ins Ghetto Riga, im März 1942 ins Ghetto Warschau.

Im Juli 1942 wird Julie Ullmann ins Ghetto Theresienstadt verschleppt und knapp zwei Jahre später in Auschwitz ermordet.

Damit hört die jüdische Gemeinde Stadtoldendorfs auf zu existieren.

 

30 Bürger jüdischen Glaubens, die während der NS-Zeit in Stadtoldendorf lebten, werden Opfer des Holocaust.

Bürger jeden Alters und jeder „Gesellschaftsschicht“. Menschen mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen, mit dem Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, mit dem Recht auf Freiheit!

Diese Bürger und ihre Familien sehnen sich nach einem Rechtsstaat, sehnen sich nach einer Polizei, die hilft und beschützt, sehnen sich nach einem Rechtsanwalt, der wirklich verteidigen kann, sehnen sich nach einem Richter, der tatsächlich und unabhängig Recht spricht, sehnen sich nach einer Presse, die frei berichten, die überhaupt berichten kann, sehnen sich nach einem Nachbar, der hilft!

 

Pause

Letzter Teil: kommen wir zu meinem „Bericht zur Lage der Nation“.

 

Als ich vor vier Jahren hier zum letzten Mal zu Ihnen sprach, da waren gerade einmal vier Wochen seit dem gescheiterten Anschlag auf die Synagoge in Halle vergangen. Wenige Monate zuvor war zudem der ehemalige Kasseler Regierungspräsident Walter Lübke ermordet worden.

Damals waren das Entsetzen, die Anteilnahme und die Solidarität groß, man sprach von einer Zäsur, man habe endlich verstanden, sehe in Zukunft genauer hin. „Nie wieder!“ sei keine Floskel. Antisemitismus habe in unserer Gesellschaft keinen Platz, hieß es unisono.

Nun, fast vier Jahre später – heute genau vor vier Wochen und vier Tagen - am 7. Oktober 2023 überfallen Hamas-Terroristen Israel, töten 1400 Menschen und entführen etwa 239 weitere. Mit Luftangriffen schlägt Israel gegen die Hamas im Gazastreifen zurück und bereitet eine Bodenoffensive vor. Israel ist geschockt und traumatisiert.

In den ersten zehn Tagen nach dem blutigen Überfall werden bundesweit unzählige neue antisemitischen Fälle registriert; 240 Prozent mehr als zur gleichen Zeit ein Jahr zuvor!

Ein Brandanschlag auf eine Synagoge bzw. eine jüdische Kita in Berlin kann die Polizei verhindern. Die Täter kommen nicht nahe genug an das Gebäude heran. Im Prenzlauer Berg beschmieren Unbekannte ein Mehrfamilienhaus mit einem Davidstern. Es gibt weitere Vorfälle dieser Art in Berlin und in Nordrhein-Westfalen.

Auf pro-palästinensischen Demonstrationen werden die Gräueltaten der Hamas gefeiert und anti-israelische, antisemitische oder extremistische Parolen gerufen, etwa: „From the river to the sea, Palestine will be free.“ Der Satz propagiert die Auslöschung Israels und soll im aktuellen Kontext den Terrorangriff und die Massaker der Hamas legitimieren.

An neuralgischen Punkten, beispielsweise in der Sonnenallee in Neukölln, muss die Polizei immer wieder einschreiten, wenn sich pro-palästinensische Grüppchen bilden. Die Lage gerät häufig außer Kontrolle.

Es gibt antisemitische Slogans und Schriftzüge. Am Eingang einer Dortmunder Kneipe ist auf einem Banner zu lesen: „Israel ist unser Unglück“ - als Abwandlung der Parole „Die Juden sind unser Unglück“ aus dem nationalsozialistischen Hetzblatt „Der Stürmer“. In Bremen wird ein Graffiti entdeckt: „Für jeden Zionisten eine Kugel“.

In mehreren deutschen Städten reißen Unbekannte Israel-Fahnen von den Masten, manche weisen Brandspuren auf.

Die jüdischen Gemeinden sind irritiert. Sie fühlen sich nicht mehr sicher. Sie fühlen sich als Zielscheiben. Viele trauen sich nicht mehr auf die Straße, Kinder besuchen nicht mehr die jüdischen Schulen.

Die Sicherheitsbehörden sprechen von einer „abstrakten Gefährdungssituation“, können jedoch „spontane Taten“ nicht ausschließen.

Als ich bei Ana und Gerardo besorgt nachfrage, wie es ihnen geht, ob ihre Familien in Israel unversehrt und in Sicherheit wären - Kinder, Enkel, Cousinen, Cousins, Tanten und Onkel leben in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem, da beruhigt Ana, „ja, ganz okay“. Sie seien aber verständlicherweise weiterhin sehr erschrocken, sehr traurig, blieben wachsam und hätten einfach nur Angst. Dann schickt mir Ana ein kurzes Video von den gewaltsamen Ausschreitungen zwischen propalästinensischen Demonstranten und der Polizei in Berlin-Neukölln. Feuerwerkskörper fliegen, Polizisten werden mit Pflastersteinen, Flaschen angegriffen, Autos, Barrikaden brennen. Sie fragt mich, „Jens, bitte erkläre mir das, ich will es verstehen. Wie ist das möglich? Wie sind diese Bilder möglich?“

Ich möchte die Fragen heute Abend an Sie weiterreichen: was meinen Sie, wie ist das möglich?

85 Jahre nach der Pogromnacht? Wohnorte unserer jüdischen Mitbürger werden wieder mit David-Sternen gekennzeichnet! 85 Jahre nach der Pogromnacht gibt es in Deutschland Sitzblockaden, die „Juden! Schweine!“ skandieren? 85 Jahre nach der Pogromnacht gibt es eine rechtsradikale Partei, die bei den letzten Landtagswahlen, und nicht nur dort, Rekordergebnisse erzielt.

Womit soll ich anfangen? Ich versuche es mit Grundsätzlichem, ich versuche es mit dem Ton. Der Ton ist noch schärfer, noch unerträglicher geworden. Der Lärm der Rechtsstaatsverächtlichmacher, der Rechtstaatsfeinde im Bundestag, in den Landtagen, in den Kommunen, in den sozialen Netzwerken färbt ab – unbewusst und bewusst. Zudem: das Leben in der eigenen Blase ist recht bequem, die vermeintliche Bestätigung rund um die Uhr tut gut, die eigene Brille sieht nur noch schwarz und weiß, ihr Filter verhindert Grautöne oder Farbiges, verhindert gekonnt den Blick über den eigenen Tellerrand – das vereinfacht vieles. In Zeiten der Krisen, in einer Übergangszeit, erscheint das Leben ohnehin schwer genug. Egal welches gesellschaftliche, politische oder private Thema, der Reflex, die Empörung, der Eifer sind enorm – und dies mittlerweile auf allen Seiten. Die Scheuklappe ist so eng, dass man nur noch auf sich selbst schaut.

Die Streitkultur, die Fähigkeit zum Diskurs, zum Dialog, zur Empathie sind uns irgendwann abhandengekommen – wann genau, lässt sich leider nicht mehr feststellen, aber, ist es nicht ein Prozess seit Jahren?

Auf Teufel komm raus wird heute überhitzt, überreizt eingeordnet, zugeordnet, verglichen, relativiert, jongliert – mit Wissen, mit Fakten, mit Halbwahrheiten, mit völligem Lug und Trug. Bestenfalls kommt noch ein „Ja, aber…“ und dann ist man wieder blitzschnell im eigenen Thema, in der eigenen Welt.

Allerdings: es gibt Dinge, die sind eindeutig, die lassen sich nicht wegrelativieren, nicht leugnen. Antisemitismus ist Antisemitismus. Punkt!

Es macht keinen Unterschied, ob rechter, ob linker, ob importierter oder heimisch muslemischer Antisemitismus.

Antisemitismus ist Antisemitismus.

Der Verweis, Antisemitismus gäbe es ja auch bei unseren europäischen Nachbarn, gäbe es weltweit, ist richtig, nur, es bleibt Deutschlands beispiellose historische Verantwortung - auf ewig!

Grundsätzlich: vor Realitäten sollte man nie die Augen verschließen. Wir haben zwei existentielle Probleme: den Antisemitismus und die tatsächliche und nicht nur gefühlte Gefährdung unserer liberalen Demokratie. Beides muss zusammengedacht werden! Und, die Zeit läuft uns davon.

„Zeitenwende“ ist das Stichwort. Bei Zeitenwende denken wir an die äußere Sicherheit, denke wir an Verteidigungsfähigkeit, nur, wie sieht es mit der Stärkung, mit der Verteidigung der liberalen Demokratie aus?

Nun, die AfD ist sich treu geblieben. Sie reklamiert weiterhin die Meinungsfreiheit nur für sich selbst. Sie missbraucht den Rechtsstaat. Sie beleidigt, relativiert, verdreht, hetzt. Ihr offizielles Partei-Programm ist unerklärlich, da es sich ständig in allem widerspricht. Ihr einziges Ziel ist die Spaltung der Gesellschaft, ist die Destabilisierung und Abschaffung der liberalen Demokratie. Auf gesellschaftliche und politische Probleme gibt sie keine einzige taugliche Antwort. Die Frustration über die Langsamkeit gesellschaftlicher, politischer Entscheidungsprozesse sowie über die Langsamkeit mehrheitsfähiger und zielführender Kompromisse kommt ihr zupass.

Die demokratischen Parteien machen es ihr und ihrer Klientel derzeit recht leicht.

Denn: Parteipolitisches Gezänk, der parteipolitische „Holzhammer“ - zumal innerkoalitionär - sind kontraproduktiv. Die Regierung scheint diese Form der „Verständigung“ mittlerweile meisterhaft zu beherrschen - und die demokratische Opposition tut es ihr gleich.

Sicher, Streit gehört zum politischen Tagesgeschäft, nur, sollte man nicht erst dann die Öffentlichkeit suchen, wenn ein Kompromiss gefunden, das Ziel bekannt ist und tatsächlich einig umgesetzt werden kann?

Genau diesem Anspruch, trotz unterschiedlicher Ausrichtungen einen gemeinsamen Kompass zu finden, wird die Ampel nicht gerecht.

Das Schiff kreist bei schwerster See und der Kapitän blättert noch im Logbuch?

Ist es wirklich so schwierig, ein Gefühl dafür zu entwickeln oder zu erkennen, wann eine Gesellschaft sich nicht nur überfordert fühlt, sondern tatsächlich überfordert ist?

Unbenommen ist unser Land ausnahmslos reformbedürftig – und die Uhren ticken immer schneller. Nur, macht es wirklich Sinn, beispielsweise bezüglich Transformation – in Krisenzeiten – das Tempo der Umsetzung schlagartig zu erhöhen, immer wieder neue Baustellen zu eröffnen - und dies parallel – und jene Umsetzung unbedarft mit der Arroganz der moralischen Überlegenheit zu kommunizieren?

Beispiel: Migration. Ist es nicht völlig unerheblich, welche Begrifflichkeit wir verwenden? Wenn „Obergrenze“ missfällt, finden wir halt ein anderes Wort, oder? Und ist nicht die Nennung einer Zahl in diesem Kontext auch irrelevant? Ist es nicht vielmehr entscheidend, wann die Belastungsgrenzen der Kommunen, der Bevölkerung erreicht oder überschritten sind?

Wenig hilfreich ist zudem eine demokratische Opposition, die unter Amnesie leidet, die den Reset-Knopf drückt – „was zählt ist heute“ - und sich somit aus der Verantwortung stiehlt für den jahrzehntelangen Stillstand, die Verspätung nicht nur bezüglich erneuerbarer Energien.

Die kleinere demokratische Opposition hatte einmal „soziale Gerechtigkeit“ auf ihre Fahne geschrieben, aber aktuell ist sie immer noch mit sich selbst beschäftigt.

Die AfD ist ein gesamtdeutsches Problem. Ihre Wählerklientel stammt aus allen Gesellschaftsschichten. Die Behauptung, „sozial schwache Menschen“ (ein furchtbares Wort) würden sie per se wählen, ist falsch und dumm.

Die AfD mit einer ihr ähnlichen „Rhetorik“, mit einer ihr ähnlichen oder noch höheren Lautstärke entzaubern zu wollen, scheint eher unbedarft. Suhlt sie sich nicht geradezu in ihrer Opferrolle?

Eine entschiedene, konstruktive Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte, aller demokratischen Parteien – jenseits aller parteipolitischen Reflexe – könnte tatsächlich helfen. Immer und immer wieder müssen die Vorteile aber auch die Erfolge der liberalen Demokratie benannt werden. Aufklärung tut Not. Einfache Lösungen, Antworten kann es in einer komplexen Welt nicht geben. Ein Kompromiss braucht Zeit, ist aber die einzige Möglichkeit, um der Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden. Minderheiten finden Schutz, finden Gehör. Die liberale Demokratie garantiert Freiheiten. Sie ist allerdings kein Selbstläufer. Sie ist ein anstrengender Prozess und jeder sollte sich engagieren, sollte zumindest teilnehmen wollen.

Rechtsstaatverächtlichmachern, Rechtsstaatsfeinden darf man keine Plattform, kein Forum bieten. Man muss sie stellen, man muss sie entlarven, man muss argumentieren, aufzeigen, dass ihre „Alternativen“ keine Alternativen sind. – immer und immer wieder, gebetsmühlengleich - sachlich, vehement und dennoch im ruhigen Ton. Man muss verdeutlichen, dass ihre Absichten rein destruktiver Art sind. Man muss der AfD ihre vermeintlichen Themen wegnehmen und sie lösungsorientiert besetzen.

Das mag banal, fast pastoral klingen. Okay, und was wären Ihre Vorschläge?

Apropos: die erste Demokratie, also Weimar, ist daran gescheitert, dass es zu wenig Demokraten gab, dass die Menschen nicht auf die Demokratie vorbereitet waren, dass sie nichts mit den neugewonnenen Freiheiten anzufangen wussten. Die Hyperinflation tat ihr Übriges.

Die zweite Demokratie wurde uns Deutschen geschenkt. Es brauchte Zeit, sie mit Leben zu füllen. Es gab Irrungen und Wirrungen. Liberalität und Toleranz mussten erstritten werden, sie sind nicht vom Himmel gefallen.

Die dritte Demokratie wurde friedlich erkämpft – im Osten. Sie brachte – wenn auch nur kurzzeitig - funktionierende „runde Tische“ und Basisdemokratisches.

Heute leben wir weiterhin – NOCH - in einer liberalen Demokratie. Sie ist nicht fehlerfrei, nur, gibt es eine bessere Staatsform?

Volksabstimmungen sind uns nicht vertraut, wir haben deshalb keine Erfahrung. Wahrscheinlich scheuen wir ihren möglichen Missbrauch?

Umfragen belegen aber, dass sich die Mehrheit eine „repräsentative Demokratie im Dialog“ wünscht.

Kommen wir also endlich wieder miteinander ins Gespräch?

Pause

 

Zurück zum Antisemitismus.

Der ohnehin schon grenzenlose Hass in den sozialen Netzwerken hat weiter zugenommen.

Wie kann es sein, dass Hassäußerungen und Antisemitismus im Internet immer noch nicht wirklich verfolgt werden? Warum sind alle Portale (Facebook, Telegram, Tiktok…) rechtsfreie Räume? Und warum versagen ihre selbstauferlegten Schutzfunktionen vollkommen?  

Selbst bei „TAH online“ und den „Weser-Ith-News“ sind Kommentatoren täglich menschenverachtend unterwegs – und dies unter Verwendung ihrer Klarnamen und dies seit Jahren!

Keine Frage, Meinungsfreiheit ist ein sehr hohes Gut, aber sie sollte hier enden. Die Verschärfung des Straftatbestandes der Volksverhetzung ist daher zwingend! Der Volksverhetzungsparagraph sollte zukünftig angewendet werden, ohne dass wie bisher die Störung des öffentlichen Friedens festgestellt werden muss.

Allzu viele Ermittlungsverfahren laufen aufgrund der geltenden Regelung ins Leere. Zudem gibt es einen erheblichen Personalmangel aufseiten der Ermittlungs- und Vollzugsbehörden. Und wir sollten nicht vergessen, dass der „Marsch durch die Institutionen“ von AfD und Co. schon längst begonnen hat.

Pause

 

Frage: Wie kann es sein, dass beispielsweise die „Blaue Moschee“, dass das „Islamische Zentrum Hamburg“ (IZH) jahrelang unbehelligt extremistische Ansichten verbreiten kann und auch weiterhin verbreitet? Wie kann man die Einordnung des Verfassungsschutzes, die Moschee sei als Außenposten des iranischen Regimes zu werten, einfach ignorieren?

Wie kann es sein, dass die Hamas und ihrer Unterstützervereine sowie ihre Netzwerke bis vor gut einer Woche immer noch erlaubt waren?

Und wie kann es sein, dass jahrelang in Berlin der so genannte „Al-Quds-Tag“, eine israel-feindliche Demonstration, inklusive der übelsten Schmähungen in Schrift und Ton und mit entsprechenden Krawallen, stattfinden kann? Schließlich wirkt im Hintergrund die islamistisch-schiitische Hisbollah.

 

Bis zum 7. Oktober 2023 werden diese Fragen mit der Komplexität des Rechtsstaats begründet. So sei es nicht leicht, ein Verbot auszusprechen. Der Gesetzgeber setze diesbezüglich sehr hohe Grenzen. Und dies träfe sowohl für das Vereinsrecht, wie auch für das Demonstrationsrecht zu. Eine Demonstration könne zudem jederzeit fremdangemeldet oder im Titel nur leicht verändert werden. Ähnliches gelte bei Vereinen. Darüber hinaus bestehe bei Einsprüchen die Gefahr, dass übergeordnete Gerichte die Verbote wieder aufheben. Im Allgemeinen scheiterten Verbote ohnehin am fehlenden politischen, gesellschaftlichen Konsens bzw. Willen.

Anmerkung: Es gibt in Deutschland - und somit auch hier in Stadtoldendorf - Glaubensgemeinschaften, darunter auch christliche, die erkennen als alleinige Autorität nur Gott, nur ihren Gott an. Sie fühlen sich nur ihrem Glauben und ihrer eigenen Gemeinde verpflichtet. Ganz selbstverständlich nehmen sie die Vorteile des Rechtsstaats in Anspruch, halten die liberale Demokratie mit ihren Freiheiten ansonsten aber für schwach, ja sogar für krank. Ausnahmen mögen die Regel bestätigen. In Hochzeiten der Corona-Pandemie offenbarten sie, was sie von der Mehrheitsgesellschaft halten – nämlich recht wenig bis nichts! Sie unterliefen kreativ jede behördliche Vorgabe, verweigerten Impfungen und gefährdeten somit bewusst vor allem alte und kranke Menschen. Viele starben – nicht nur in den eigenen Reihen. Bis heute gab es nicht einmal den Versuch, dieses Verhalten aufzuarbeiten!

 

Unbenommen, ein interreligiöser Dialog ist richtig und wichtig. Nur sollte er mehr sein, als gemeinsam gesüßten Tee oder Kaffee zu trinken. Ein Dialog kann nur im gegenseitigen Respekt geführt werden, oder? Und es muss Kritik nicht nur zugelassen, sondern auch ertragen werden, bis hin zu konstruktivem Streit.

In Deutschland kann das Fundament eines interreligiösen Dialogs nur die liberale Demokratie sein. Den üblichen Lippenbekenntnissen und Absichtserklärungen müssen zwingend Taten folgen, die liberale Demokratie muss gelebt werden. Punkt!

 

Eins noch: Hier in Stadtoldendorf können wir uns liebend gern über Wasserspiele in der Fußgängerzone, über Kinderspielplätze unterhalten. Wir können uns diesbezüglich auch gern auf die Schultern klopfen.

Aber, wir können doch nicht einfach ignorieren, wir können doch nicht darüber schweigen, dass beispielsweise die AfD in einem Wahlbezirk in Stadtoldendorf bei der letzten Bundestagswahl über 30 Prozent der Stimmen erhalten hat. Wir können doch nicht ignorieren, nicht darüber schweigen, dass sich hier vor Ort ganz offensichtlich Parallelgesellschaften etabliert haben.

Was meinen Sie? Ist das wirklich weiterhin zu tolerieren?

Pause

 

Sprechen wir über den alltäglichen Antisemitismus. Wie sind Ihre Erfahrungen? in der Kommunalpolitik, im Verein, im Verband, in der Gemeinde, am Arbeitsplatz, in der Schule, im Privaten?

Könnten Sie folgende bundesweite Beispiele bestätigen? Denken Sie sich im Folgenden bitte die entsprechende weibliche oder männliche Form einfach dazu.

Ein Philosoph faselt bezüglich orthodoxer Juden von „Diamantenhandel“ und will vergessen haben, damit antijüdische Klischees zu bedienen.

„Jude“ schallt als Schimpfwort auf Schulhöfen, in Stadien, in Sporthallen.

Eine Passantin meint im Vorübergehen, der schaut aber aus, wie ein Jude.

Ein mit Integrationspreisen ausgezeichneter Fußballjugendtrainer äußert öffentlich bezüglich der zunehmenden Flüchtlingszahlen vor Monaten auf Facebook: „Deutschland erwache“.

Ein Handwerksmeister postet seit Jahren in Dauerschleife die neuesten AfD-Tagesparolen, stellt zeitgleich ständig die Meinungsfreiheit in Abrede und resümiert, schuld sei „das Netzwerk Rothschilds“.

Der Hauptsponsor eines Fußballvereins propagiert stündlich Hass im Internet, geifert „Tod den Juden, Tod Israel“. Videos der übelsten Machart sollen seinen Hass belegen. Eine Imbissbesitzerin tut es ihm gleich.

Sind Ihnen derartige Fälle bekannt? Gibt es Vergleichbares auch in Stadtoldendorf? Und wie reagieren Sie darauf?

Beschwichtigen Sie, „das habe ich ja gar nicht gewusst“ oder entgegnen Sie, „aber er ist doch ein ganz lieber Kerl und immer so hilfsbereit.“ oder „sie ist charmant und eine echte Frohnatur“ oder umgekehrt: „er weiß zu feiern, ist immer gut drauf“ oder „sie ist doch immer nett und aufmerksam“ – „und außerdem schmecken seine Speisen, schmecken ihre Speisen vorzüglich“?

Entschuldigen Sie „Ich bin mit ihm, mit ihr befreundet, da ist das alles nicht so einfach!“

Fragen Sie nach, „wie viele Juden kennst du, wie viele Juden kennen Sie eigentlich persönlich?“ und „wie schauen eigentlich eine Jüdin oder ein Jude aus?“

Und generell: Finden Sie immer die passende Antwort?

Stellen Sie sich vor, ein 17-jähriger Schüler – suchen Sie sich die Schule aus – teilt in der zentralen Whatsapp-Gruppe seiner Schule folgenden Rundbrief à la Aiwanger:

Ich zitiere:

„Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?

Teilnahmeberechtig: Jeder, der Deutscher ist und sich auf deutschen Boden aufhält.

Bewerber: Melden sich im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch.

Preisverteilung: Die Beleger der Plätze 1 bis 1000 dieses Wettbewerbes werden noch im Laufe des Januars abgeholt.

Und nun die zu gewinnenden Preise im Einzelnen:

1.    Preis: Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz.

2.    Preis: Ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab (Ort nach Belieben).

3.    Preis: Ein kostenloser Genickschuss.

4.    Preis: Ein einjähriger Aufenthalt in Dachau (Freie Kost und Logie).

5.    Preis: Eine kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil.

6.    Preis: Eine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe (Erfüllungsort ebenfalls das Vergnügungsviertel Auschwitz und Nebenlager).

7.    bis 1000. Preis: Eine Nacht Aufenthalt im Gestapokeller, dann ab nach Dachau.“

Zitatende

 

Pause

 

Wie werten Sie diesen „Rundbrief“? Als „Dummen-Jungen-Streich“? Als Jugendsünde? Würden Sie sich tatsächlich mit einer Entschuldigung des Verfassers und mit einer Ausarbeitung eines Referates - beispielsweise mit dem Thema „Antisemitismus im Jahre 2023“ – zufriedengeben wollen?

Pause

Was glauben Sie, wer könnte heute in Bezug auf den steigenden Antisemitismus die wichtige Rolle einer moralischen Instanz übernehmen? Und, bietet unsere digitale, unsere analoge Welt überhaupt noch einen Platz für moralische Instanzen?

Die Kirchen scheinen auszufallen. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, sie versuchen seit Jahren zu klären, ob die „Kerngemeinde“ oder doch die „Öffnung“ der richtige Weg zur Lösung ihrer Existenzkrise wäre. Die Kirchen haben sich aufgrund der Missbrauchsfälle und deren unseriösen Aufarbeitung nachhaltig selbst diskreditiert.

Wie wäre es dann mit den Intellektuellen, mit den Kulturschaffenden? Die, die sich tatsächlich engagieren, können sich kaum Gehör verschaffen. Ihre Stimmen gehen im Nirwana des Internets verloren, ihnen fehlt ein Forum mit Wirkung. Die allermeisten bleiben stumm, schmoren im eigenen Saft der Eitelkeiten oder versteigen sich – teils gutgemeint - in geistige Höhen, die jedoch alle möglichen Interpretationen zulassen – um letztlich allen gerecht werden zu können?

 

Ein Musterbeispiel ist die Diskussion um den Antisemitismusvorwurf bei der documenta fifteen im September 2022. Erst passiert gar nichts, dann wird ignoriert, verharmlost, abgewehrt, relativiert, verglichen, obwohl bereits im Vorfeld eine Nähe des Kuratorenkollektivs zur antiisraelischen Boykottbewegung BDS feststand. Vier Kunstwerke der Ausstellung enthalten tatsächlich Aussagen, die judenfeindlich sind oder so gelesen werden müssen. Die Kulturstaatsministerin wirkt hilflos und überfordert.

Wer käme denn nun letztlich als moralische Instanz überhaupt noch in Frage?

Die Antwort ist ganz einfach!

Sie! Jeder einzelne von Ihnen ist eine moralische Instanz!

 

Und das Gute daran? Sie können sich nicht aus der Verantwortung stehlen!

 

Pause

 

Zurück zum Thema: jetzt, nach dem Massaker vom 7. Oktober ist alles anders?

Die Stimmen aus der Politik sind vielfältig – und wecken Erwartungen. Gesetze sollen nun schnellstens angepasst, verschärft oder gänzlich neu erlassen, Verbote umfassend ausgesprochen werden. Die Polizei soll personell aufgestockt, besser ausgestattet und besser ausgebildet werden. Gleiches habe für die Justiz, für das Bildungswesen zu gelten. So solle der Nahostkonflikt endlich in den Lehrplänen auftauchen, Antisemitismus in der Pädagogik-Ausbildung zum wichtigen Thema werden. Es gelte Kitas, Schulen, Betriebe, Verwaltungen, Justiz nicht nur diesbezüglich zu sensibilisieren, sondern mit Handlungskonzepten und Beratung zu unterstützen. Präventionsprogramme sollen reaktiviert oder neu aufgelegt werden.

Ist dieser „Anspruchskatalog“ wirklich neu? Kommt Ihnen das nicht alles bekannt vor?

Nichts desto trotz: besteht heute nicht tatsächlich die Chance - im Konsens der demokratischen Parteien -, vieles zum Besseren zu verändern?

Wenn wir heute Abend bundesweit darüber abstimmen ließen, „Sind Sie der Meinung, dass sich Menschen mit antisemitischer und demokratiefeindlicher Haltung gegen unsere Gesellschaft, gegen unsere Werte stellen. Sind Sie der Meinung, dass jene mit dieser Haltung nicht eingebürgert werden dürfen, dass jene mit dieser Haltung ihr Aufenthaltsrecht verwirken und dass jene mit dieser Haltung keinen Schutz in Deutschland genießen können?“, was meinen Sie, wie sehe das Ergebnis aus?  

Und, wenn wir heute Abend hier darüber abstimmen, was meinen Sie, wie sieht das Ergebnis aus?

Würde Sie das Ergebnis beruhigen?

Beunruhigen?

(Sollten, wollen wir darüber abstimmen?)

Behalten Sie die Frage im Gedächtnis, ich fahre fort:

 

„Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson!“ Was bedeuten eigentlich diese großen Worte?

Unaufkündbare Solidarität mit Israel? Jüdisches Leben umfassend in Deutschland zu schützen? Ja, gewiss.

Zweifellos leitet sich aus unserer Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber Israel ab. Bedeutet „deutsche Staatsräson“ dann in letzter Konsequenz, Israel auch militärisch zu unterstützen? Die Bundeswehr einzusetzen?

Was meinen Sie?

Bisher hat Israel Freunde nie gebeten, mit Truppen für Israel zu kämpfen.

Israels maßgebliches Ziel ist, die militärische Bedrohung aus dem Gaza-Streifen zu beseitigen. Die Terrororganisation Hamas hat seit Jahren ihre militärischen Fähigkeiten ausgebaut, inklusive der Errichtung eines Tunnelsystems unter Gaza City. Trotz Bombardierung werden weiterhin täglich Raketen aus dem Gaza-Streifen auf Israel abgefeuert. Der Krieg inmitten einer Stadt, inmitten eines dichtbesiedelten Gebiets ist blutig, wird blutig und lang werden.

Es muss alles dafür getan werden, die Geiseln zu befreien. Der Preis wird für Israel sicher sehr hoch sein. Dank den USA, Ägypten und Katar kamen bisher vier Geiseln frei: zwei US-Bürgerinnen, eine Jugendliche mit ihrer Mutter, und zwei Frauen, 78 und 85 Jahre alt, aus Israel. Eine israelische Soldatin konnte durch die israelische Armee befreit werden.

Die Folgen des Massakers vom 7. Oktober sind und bleiben für die traumatisierte israelische Gesellschaft unabsehbar.

Obwohl die Experten im diplomatischen Dienst sicher gut und breit aufgestellt sind und sie ihr Netzwerk in die arabische Welt zu bedienen wissen, sollte dieser Einfluss nicht überbewertet werden. Deutsche Interaktionen allein werden sicher keinen Flächenbrand im Nahen Osten verhindern.

Egal mit welchen Augen man schauen mag, Realitäten sind auch hier anzuerkennen: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. In Israel leben auch palästinensische Israelis. Eine arabische Partei ist im Parlament vertreten. Und es gibt weiterhin, wenn auch arg strapazierte, Freundschaften zwischen Palästinensern und Israelis. Bis vor Kurzem gab es berechtigte Hoffnungen auf bessere, stabilere Beziehungen zu manchen arabischen Nachbarn - das Inaussichtstellen von diplomatischen Beziehungen. Diese Prozesse sind nun unterbrochen.

Die derzeitige humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen hat allein die Hamas zu verantworten. Dennoch sind weiterhin humanitäre Hilfen zu leisten, müssen Fluchtkorridore ermöglicht und das Völkerrecht gewahrt werden.

Der Ruf nach einer Feuerpause mag verständlich sein, nur darf niemals der Eindruck entstehen, das israelische Recht auf Selbstverteidigung werde infrage gestellt. Mit der verstörenden Unterstellung, die Israelis seien selbst schuld, von Mördern und Schlächtern überfallen worden zu sein, mit dieser Opfer-Täter-Umkehr geht man der Hamas nicht nur auf den Leim, sondern unterstützt, rechtfertig und verlängert ihren Terror. Für den Gaza-Streifen kann es nur eine Zukunft ohne Hamas geben!

Aber auch in diesem Kontext „glänzt“ die EU wieder einmal mehr mit Uneinigkeit. Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung, der Bundesrepublik wird davon abhängen, ob sie mehr liefern kann, als das bloße Ringen um Buchstaben – Stichwort: Feuerpausen -, ob sie mehr liefern kann, als sich bei Abstimmungen von UN-Resolutionen der Stimme zu enthalten. Glaubwürdigkeit bedeutet, dass die sogenannte „neue wertegeleitete Außenpolitik“ endlich sichtbar wird, dass die deutsche Staatsräson nicht schon nach wenigen Wochen zur bloßen Plattitüde verkommt. Eines ist gewiss: die USA bleiben nach wie vor die alleinige Schutzmacht Israels. Punkt!

Der Traum der friedlichen Koexistenz zwischen Palästinensern und Israelis, der Traum von der „Zwei-Staaten-Lösung“ scheint ausgeträumt.

Aber, muss man ihn nicht weiterträumen? Weiterträumen wollen? Was wäre denn die Alternative?

Meine Generation wird die Verwirklichung dieses Traumes ganz sicher nicht mehr erleben. Hoffen, bauen wir also auf die Aussöhnung der nachfolgenden Generationen.

Pause.

 

In den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten gab es leider viel zu viele Sonntagsreden. Und vielleicht ist diese Rede am Donnerstag Abend ja auch nur eine weitere Sonntagsrede?

Schauen, hören Sie bitte genau hin, bleiben Sie kritisch, selbst gegenüber Institutionen.

Vier Tage bevor Klara Rosenhain ihren 100. Geburtstag feiern kann, ist der Bundeskanzler zu Wirtschaftsgesprächen in Buenos Aires. Vorrangige Themen sind eine mögliche Freihandelszone sowie der Ersatz für russische Gas- und Öllieferungen.

Okay, frühzeitiges Gratulieren soll ja Unglück bringen, also geschenkt!

Nur: das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft, der deutsche Botschafter in Buenos Aires sind rechtzeitig – Monate zuvor - über den bevorstehenden Geburtstag und Klaras Schicksal informiert worden.

Aber vielleicht ist es für manche ja nichts Besonderes, als Holocaust-Überlebende 100 Jahre alt zu werden?

Was meinen Sie, in welcher Form Klara Rosenhain von offizieller deutscher Seite geehrt wurde? Mit einem Besuch? Nein. Mit einem Besuch in vierter, fünfter Stellvertretung? Nein. Mit einem Geschenk? Nein. Mit einem Blumenstrauß? Nein. Mit einer Urkunde? Nein. Mit einer Grußkarte? Nein.

Mit völliger Nichtachtung? Ja!

Pause

 

Daher meine dringende Bitte an Sie:

Schauen Sie nicht weg.

Bleiben Sie nicht stumm.

Mischen Sie sich ein.

Zeigen Sie Zivilcourage.

Werden Sie lauter.

Bekämpfen Sie Antisemitismus – immer und überall!

Beschützen Sie jüdisches Leben.

Benennen Sie die historische Wahrheit.

Benennen Sie die Schicksale, die entsetzlichen Leidenswegen der NS-Opfer aus Stadtoldendorf und anderswo – und tragen Sie Ihr Wissen weiter.

Helfen Sie, die liberale Demokratie zu stärken und zu verteidigen.

Wir Demokraten müssen viel mehr Gesicht zeigen! Wir müssen gemeinsam den Antisemitismus bekämpfen. Wir müssen gemeinsam die liberale Demokratie stärken und verteidigen.

Das sind wir nicht nur den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, sondern das sind wir auch uns selbst schuldig!

 

So, ich komme zum Schluss und möchte mich bedanken:

Zunächst bei Richard Wolff und Noah Wolff für ihre Teilnahme – aus Zürich kommend, hatten die beiden ganz sicher die längste Anreise heute Abend.

Es ist ein gewaltiger und entscheidender Unterschied, ob man von „Außen“ auf Schicksale schaut, von „Außen“ spricht, zuhört, oder ob mit den Augen, mit den Ohren der eigenen Familie. Das Wissen um die Barbarei gegenüber dem eigenen Großvater, der Urgroßmutter, der Großtante, gegenüber anderen Familienmitgliedern – zuvor hochgeachtete Bürger auch dieser Stadt, die in Sachsenhausen, in Auschwitz, anderswo ermordet werden, hinterlässt tiefste Spuren – besonders, wenn man sich hier vor Ort wiederholt auf ihren Wegen bewegt.

Was macht das mit einem, wenn man vor den ehemaligen Wohnhäusern steht, die Reste der Weberei Rothschild Söhne betrachtet, wenn man sich die Familienstiftungen in Erinnerung ruft: das Krankenhaus Charlottenstift, den Kindergarten, den Kellbergturm, den Sitzungssaal im Rathaus, wenn man die Familiengräber auf dem jüdischen Friedhof besucht?

Ist es da möglich, Vertrauen je wieder zuzulassen? Ja sogar die Hand, wenn auch gesichert, ausstrecken zu können? Ist es da möglich, nicht nur zurück, sondern – trotz allem - auch nach vorn zu schauen?

Richard hat mir gezeigt, dass das möglich ist!

Dies ist mitnichten selbstverständlich, sondern etwas ganz Wertvolles, es ist ein ganz besonderes Privileg.

Aber genug, ich will an dieser Stelle nicht weiterphilosophieren, nicht verkomplizieren.

Nur noch so viel: Es bedeutet mir sehr, sehr viel und es ehrt mich sehr – und ich denke, ich kann an dieser Stelle für uns alle sprechen: es ehrt uns sehr -, dass ihr beide, lieber Richard, lieber Noah, heute Abend hier seid. Herzlichsten Dank!

 

Ich möchte mich herzlich bei Klara und Heinz Rosenhain, bei Ana und Gerardo bedanken!

 

Ich möchte mich bei all jenen bedanken - unabhängig davon, ob sie ins Schloss Bellvue eingeladen werden oder nicht -, die die Erinnerung wachhalten, die mahnend aufklären, die ein Zeichen setzen, und die dabei nicht ermüden.

Eigentlich wollte ich keine Namen nennen. Sehen Sie es mir bitte nach, dass ich nun doch drei nennen werde: Klaus Kieckbusch, Detlef Creydt und Bernhard Gelderblom.

 

Speziell für Stadtoldendorf möchte ich Ute Siegeler danken. Sie ist die Initiatorin der ersten Stolpersteine. Ohne sie hätte es ganz sicher keine Stolpersteine in Stadtoldendorf gegeben Und ohne sie hätten die Begegnungen mit den Angehörigenfamilien Wolff, Matzdorf, Hausmann, Rosenhain nicht stattfinden können. Leider ist Ute viel zu früh 2015 verstorben.

 

Ich möchte mich bei Ihnen alle bedanken: herzlichen Dank für Ihre Teilnahme, für Ihre Aufmerksamkeit, für Ihr Verständnis, für Ihre Geduld und danke, dass Sie meine vielen Fragen beantworten werden.

Ein Letztes: Herzlichen Dank, dass ich heute Abend wieder zu Ihnen sprechen konnte.

©jens meier nov.2023