Rede/Einleitung zur fünften Stolpersteinlegung: 23. August 2024

 

 

"Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

heute ist wieder ein ganz besonderer Tag für Stadtoldendorf.

Ich darf Sie (auch) ganz herzlich zur 5. Stolpersteinlegung begrüßen.

Mit dem 33. Stolperstein ehren wir heute Gertrud, genannt „Dudu“, Bloch.

Sehen Sie es mir bitte nach, dass ich zunächst kurz auf die Stolpersteinlegungen in Stadtoldendorf eingehe.

 

Begonnen hat alles im Jahre 2007, als Frau Ute Siegeler, aus Borken/Westf., die ersten elf Stolpersteine für ihre Vorfahren, die Familien Rothenberg, Rosenhain und Wahlhausen initiierte.

Es war Utes Herzenswunsch und dank ihres Mutes, ihrer Beharrlichkeit und ihrer Entschlossenheit wurde der Wunsch ja auch Wirklichkeit.

Keine Frage, ohne Ute Siegeler hätte es in Stadtoldendorf keine Stolpersteine gegeben!

Ihr Weg hat viel Kraft gekostet, leider ist Ute bereits vor neun Jahren verstorben.

Sie war der Motor, der Katalysator, sie war die Ideengeberin für mehr.

 

2009 waren Richard Wolff mit seinen Söhnen aus Zürich und Wien sowie David Matzdorf aus London Ehrengäste der 2. Stolpersteinlegung.

Richard und Noah halten Kontakt, sie besuchen Stadtoldendorf nun fast „regelmäßig“.

 

2010 initiierte Herr Ulrich Hausmann (aus Lagesbüttel) drei Stolpersteine für seine Familie, die Franks, die drei Stolpersteine finden Sie auf unserem Marktplatz.

Herr Hausmann wünschte einen privaten Rahmen. Er ist leider letztes Jahr im Dezember verstorben.

 

2014 gab es Stolpersteine für die Familie Fröhlich und einen Stein für Heinz Rosenhain. Ana Gunsberg und Gerardo Rosenhain aus Buenos Aires waren bereits zweimal vor Ort, sie lassen uns an ihrem Leben teilhaben, Familie Zelms besucht Stadtoldendorf eher im Stillen.

 

Im erweiterten Kontext „Stolpersteine“: waren hier auf Spurensuche:

Familie Jonas aus Irland,

Familie Harris aus England,

der Fünffach-Urenkel von Joseph Rothschild, Herr Tom Schuster aus den USA, der einen unglaublich umfänglichen Stammbaum seiner Familie präsentieren konnte,

Familie Schoenbeck aus Guatemala und Rabbi Walter Rothschild (aus Berlin).

Sie sehen, da ist tatsächlich „etwas“ in Bewegung geraten. „Bewegung“ meint an dieser Stelle: Erinnerung, Schmerz, Leid, Begegnung, Austausch, Gestern, Heute, Morgen, Zukunft.         

 

Und ein weiterer Impuls von außen ist nun Gertrud Blochs Großnichte Susanna. Sie ist die Initiatorin des aktuellen Stolpersteins.

Hätte Susanna, unterstützt und motiviert von ihrer Familie, sich nicht auf den Weg gemacht, das Schicksal ihrer Großtante zu ergründen, wir ständen heute nicht hier und wir wüssten ganz sicher nichts von Gertrud Blochs Leben. Bestenfalls wären uns ihr Geburts- bzw. Sterbedatum bekannt.

 

Gertrud Bloch ist ein Kind unserer Stadt. Im Mai 1905 geboren, verbringt sie hier ihre Kindheit. Am 22. August 1942 wird sie in der „Pflegeanstalt Pfafferode“ in Thüringen ermordet.

Man lässt sie verhungern.

 

 

1933 funktionieren die Nationalsozialisten das Gesundheitswesen nach ihren rassischen Vorstellungen um: sogenannte "Erbgesunde" werden gefördert, während Kranke, Behinderte und sozial Auffällige Vernachlässigung und Diskriminierung erfahren. Die in Heil-, Pflege- und Erziehungsanstalten lebenden Menschen gelten nun als ökonomische Belastung und im offiziellen Sprachgebrauch werden sie als "Ballastexistenzen" und "lebensunwertes Leben" bezeichnet.

Nach dem seit Juni 1933 geltenden "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" werden ca. 400.000 angeblich "erbkranke Menschen" - darunter auch Fürsorgezöglinge, sogenannte "Asoziale", Kriminelle und Alkoholabhängige - zwangsweise sterilisiert.

Mit der Entfachung des 2. Weltkrieges beginnt auch die systematische Erfassung und Ermordung der Patientinnen und Patienten von Heil- und Pflegeanstalten.

Eine von der Kanzlei des Führers in Zusammenarbeit mit dem Reichsinnenministerium gegründete Organisation mit Sitz in Berlin (Tiergartenstraße 4) plant und organisiert die als "Euthanasie" bezeichneten Krankentötungen.

70.000 angeblich "arbeitsunfähige" und "unheilbar kranke" Anstaltsbewohnerinnen und Anstaltsbewohner werden bis August 1941 in sechs speziell dazu eingerichteten Gasmordanstalten im Deutschen Reich ermordet.

Die betroffenen Familien erhalten falsche Angaben über den Tod, gefälschte Sterbepapiere und auf Wunsch die Asche, die falsche Asche ihrer Angehörigen.

Nach 1942 werden die Gasmordanstalten wieder in Heilanstalten umgewandelt oder zur Tötung von KZ-Häftlingen benutzt.

Ein Großteil des T4-Personals geht nach Polen und beteiligt sich in den Konzentrationslagern an der Vernichtung der europäischen Juden.

Im Deutschen Reich weiten sich die "Euthanasie"-Morde bis 1945 aus: In vielen Anstalten werden die Kranken mit Überdosen von Medikamenten und durch Nahrungsentzug von Ärztinnen, Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern ermordet.

Zu den Opfern dieser zweiten Phase zählen auch Menschen, die nach Bombenangriffen mit Verwirrungszuständen aufgefunden werden, tuberkulosekranke Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und sogenannte "halbjüdische" Fürsorgezöglinge.

Auch vor kranken und behinderten Kindern macht die Vernichtungsaktion nicht halt. In besonderen "Kinderfachabteilungen" werden bis 1945 5.000 Säuglinge und Kleinkinder durch Vernachlässigung oder Gift ermordet.

 

Gertrud Bloch ist - nach Erna Rosenhain und Alice Matzdorf - nun das dritte bekannte NS-Euthanasie-Opfer aus Stadtoldendorf!

Ihr Schicksal bezeugt erneut die Unmenschlichkeit, die Erbarmungslosigkeit und die perfide Systematik der Nationalsozialisten.

 

Das Unvorstellbare geschah vor rund 80 Jahren – gerade einmal die Zeitspanne eines Menschenlebens!

 

Gertrud Blochs Schicksal macht uns bewusst, welch kostbares Gut es ist, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können! Und vielleicht ist dies tatsächlich das höchste Gut überhaupt?

 

Bitte bedenken Sie, dass nur eine einzige Staatsform ein individuelles, selbstbestimmtes Leben zulässt: die liberale Demokratie.

Ich möchte mich bei all jenen herzlich bedanken, die Stolpersteine in Stadtoldendorf ermöglicht haben.

 

Bezüglich der heutigen Stolpersteinlegung möchte ich mich bei der Stadt Stadtoldendorf, bei Helmut Affelt, bei Wolfgang Anders, bei Anke Wendland, bei Sandra Mosel, bei den Mitarbeitern des Bauhofes, bei Bodo Janke-Zöllner sowie bei dem Kreisarchivar Dr. Hilko Linnemann herzlich bedanken.

 

Ein ganz besonderer Dank für ihr Engagement gilt erneut Susanna und ihrer Familie!

Tausend Dank!

 

 

Das Wort hat nun Gertrud Blochs Neffe..."

 

© Jens Meier, 2024

 

 

Im Anschluss berichtet Gertrud Blochs Neffe tief bewegt, dass seine Tante in Familiengesprächen immer sehr präsent gewesen sei und auch weiterhin ist. Ihre Verzweiflung, ihre Mutlosigkeit und ihr Leiden am Leben, somit die Anzeichen ihrer psychischen Erkrankung, hätten sich wohl schon recht früh gezeigt.

 

Gertruds Großnichte verdeutlicht anhand eines Gedichtes ihrer Tochter in englischer Sprache, „wie gegenwärtig Dudu in der Familie immer noch ist“, das "Sonett" lautet sinngemäß übersetzt wie folgt:

 

"Geschichten aus alter Zeit lassen Erinnerungen aufblühen

Körper können unter der Erde ruhen

Doch ihr Wesen lebt noch immer in Geschichten, die wir erfinden

Ihre Seelen sind in jeder gemeinsamen Gegenwart spürbar

 

Auf den Seiten der Geschichte lebt ihr Name weiter

Geschichten, die in den dunkelsten Nächten geflüstert werden

Ihre Taten und Wirkungen sind nicht völlig verschwunden

Einst lebendig, jetzt ein Vermächtnis – ein Leuchtfeuer, das helles Licht erhellt

 

... verwest und Knochen zerfallen zu Staub

Unerreichbare Geister verweilen in den Herzen der Menschen, die sie berührt haben

Ihre Stimmen hallen in den Windböen wider

Erwecken ein tieferes Gefühl der Lust

 

Das Gelächter derer, die von uns gegangen sind, ist noch immer zu hören

Und Weisheit hallt in den Worten wider, die wir sprechen

Ihre unsterbliche Liebe ist in jeder sanften Umarmung zu spüren

So wie ihr Mut uns Kraft gibt, wenn wir schwach sind

 

In Geschichten und Legenden werden sie niemals sterben

Ihre Essenz ist in jeden Reim verwoben

Geister tanzen unter dem mondbeschienenen Sternenhimmel

Die Erinnerung wird immer die Zeit überdauern

 

Mit Körpern, die vergehen und zu Asche und Staub werden

Ihre Seelen bleiben in Geschichten, denen wir vertrauen

Lasst uns also unsere Stimmen hoch und klar erheben

Zu Ehren derer, die uns so lieb sind"

 

 

Die Großnichte berichtet, Gertrud Bloch sei eine schöne Frau „mit roten kastanienfarbigen Haaren“ gewesen. Sie habe Geige gespielt, gezeichnet, getanzt und Gedichte verfasst.

Gertruds Gedicht, „Am Mittag“, aus ihrem Gedichtband (1923), zeige ihr großes Talent, aber auch die „dunkle Schwere“, die Gertruds Seele belaste.

 

Gertruds Großneffe trägt ein weiteres Gedicht, „Unsere Aufgabe“, vor. Die Dichterin habe dies vermutlich als Ermunterung verstanden. „„Für sie alle wollen wir strahlen, […] bis sie schwaches Leuchten schauen, […] bis sich leuchtend selbst auflodern.““ (zitiert nach Ernst Schaffer).

Vielleicht zeige sich hier schon die Vorahnung auf die düsteren Zeiten, so der Großneffe.

 

Zum Schluss betont Bürgermeister Helmut Affelt, „ich finde es wichtig, dass es diese Zeichen [Stolpersteine] auf den Bürgersteigen gibt, sie erinnern an die Geschichte!“

 

Anmerkung: Aus sehr persönlichen und familiären Gründen möchten die agierenden Angehörigen nicht namentlich genannt werden.

 

 

An der Stolpersteinlegung nehmen Nachfahren aus New York, Köln, Göttingen, Düsseldorf, Hamburg, München, Genf, Marl und Wetzlar teil.